Seelenverwandschaft

Kurt Masur und Klaus Tennstedt – zwei herausragende Dirigenten des 20. Jahrhunderts, verbunden durch einen gemeinsamen Karrierebeginn in Halle an der Saale, unterschiedliche Wege ins internationale Musikleben und eine Freundschaft, die ein Leben lang hielt.

Karrierebeginn in Halle – eine prägende Weggemeinschaft
Beide begannen ihre musikalische Laufbahn am Opernhaus Halle – damals ein bedeutendes künstlerisches Zentrum in Mitteldeutschland.
Klaus Tennstedt, eigentlich aus Merseburg, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Halle zurück und wurde dort Konzertmeister und, nach einer schweren Handverletzung, Kapellmeister. Sein Vater, selbst ein erfahrener Orchestermusiker, hatte ihn seit Kindheit stark gefördert, aber auch unter Druck gesetzt, was Tennstedt sowohl entschlossen als auch von Zweifeln getrieben machte.
Kurt Masur wiederum kam nach seinem Studium in Leipzig 1948 als Solorepetitor und Kapellmeister ans Landestheater Halle und begann dort, sein Talent für musikalische Führung und Orchestermanagement zu entfalten.


So wirkten beide Anfang der 1950er Jahre für einige Zeit am selben Haus, begannen dort ihre prägenden Erfahrungen als Dirigenten und knüpften dort die ersten Bande einer musikalischen Kameradschaft, die beide später zurückblickend als sehr wichtig beschrieben.

Gemeinsame Wurzeln, unterschiedliche Wege
Während Tennstedt sich in der DDR trotz beträchtlicher Begabung zunächst nicht an größeren Häusern durchsetzen konnte und zwischen Halle, Chemnitz und Schwerin pendelte, wurde Masur bald Chefdirigent in Dresden und schließlich legendärer Gewandhauskapellmeister in Leipzig, wo er zu einer Institution und auch zur künftigen Symbolfigur der Wende von 1989 wurde.
Tennstedt, von Ehrgeiz und Selbstzweifeln getrieben, verließ 1971 die DDR und begann eine zweite, internationale Karriere – erst als Operndirigent in Kiel, dann als gefeierter Mahler-Interpret in England, Kanada und den USA, besonders beim London Philharmonic Orchestra, dessen Ehrendirigent er wurde.


Masur dagegen blieb lange ein politisch und kulturell verankerter Vertreter der DDR-Musikszene, bis auch er nach der Wende internationale Orchester übernahm – in New York, London und Paris.
Die Halle-Zeit blieb für beide ein wichtiger Referenzpunkt, obwohl sie später unterschiedliche Lebenswege gingen.

Interview

Klaus Tennstedt über seine Flucht

Freundschaft über Trennlinien hinweg
Trotz aller Unterschiede verband Tennstedt und Masur über Jahrzehnte eine tiefe gegenseitige Wertschätzung und Freundschaft. Masur bezeichnete Tennstedt als seinen „Seelenverwandten“. Die beiden blieben in Kontakt, auch über die politischen und geografischen Trennungen der Zeit hinweg.
Sie schätzten einander als Musiker und Persönlichkeiten – Tennstedt für Masurs Gradlinigkeit und visionäre Kraft, Masur für Tennstedts musikalischen Tiefgang und seine Unabhängigkeit. Beide erlebten den jeweils anderen als „echten“ Musiker, der sich weder überzeugender Kompromisse noch modischer Trends bediente.

Diese Wertschätzung überdauerte die wechselnden Stationen ihrer Karrieren und reichte bis zum Tod von Tennstedt 1998 und über den eigenen Tod Masurs 2015 hinaus.

Nachwirkungen und Vermächtnis
Tennstedt blieb in Deutschland wenig bekannt, im Westen aber eine Legende; seine Mahler-Interpretationen gelten bis heute als Maßstab. Masur dagegen wurde in Ost und West zu einer Symbolfigur deutscher Musikkultur und eines demokratischen Aufbruchs nach 1989.
Beide prägten eine Generation von Musikern, beide waren in Halle wichtige Impulsgeber, und beide blieben über alle Brüche und Wendungen hinweg in einer gemeinsamen Erinnerung und gegenseitigen Anerkennung verbunden.

Letztlich zeigen Kurt Masur und Klaus Tennstedt, wie zwei große Künstler, geprägt vom gleichen Ort, auf unterschiedlichen Wegen Weltgeltung erlangten, aber doch immer wieder auf einander verwiesen – durch Herkunft, musikalischen Anspruch und eine Freundschaft, die trotz aller Unterschiede und Distanzen bis zum Tod hielt.

Konzert

Tennstedt & London Philharmonic Orchestra

© Chris Lee
Festjahr

Kurt Masur Centennial 2027

Mehr erfahren